Gleichberechtigung als Nachteil
Im Grunde ist es ein lobenswerter - höchst überfälliger - Ansatz: Bei allen politischen Vorhaben sollen die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von Anfang an berücksichtigt werden. Auch neue Gesetze müssen auf einen möglichen diskriminierenden Kern geprüft werden. So will es eine neue Strategie in der Gleichstellungspolitik der Bundesregierung.
Die neue Strahlenschutzverordnung ist das erste Projekt, bei dem das Umweltministerium diesen Ansatz in die Tat umsetzte. Die Staatssekretärin in diesem Ministerium, Gila Altmann, erkannte dabei bereits im Vorfeld starke Interessenkonflikte zwischen dem Ziel, ungeborenes Leben zu schützen, und den Belangen der berufstätigen Frauen. Es geht um die Abwägung der Risiken: Ist das Gleichstellungsrecht schwangerer Frauen auf Berufsausübung an strahlengefährdeten Orten höher anzusiedeln als das Recht des ungeborenen Lebens auf Unversehrtheit?
Bislang ging der Schutz der Ungeborenen vor, Schwangere durften in Röntgenräumen, Labors und Bereichen von Nuklearanlagen mit höherer Strahlung nicht tätig sein. Bei 15 Millisievert (mSv) pro Jahr begann die Verbotszone. Seit dem 1. August gilt dies nicht mehr, Schwangere dürfen jetzt im Kontrollbereich arbeiten. "Das klare Ziel der neuen Strahlenschutzverordnung ist die Verbesserung des Gesundheitsschutzes", erklärt Altmann. So wurde der Grenzwert der Strahlenbelastung für die Bevölkerung von 1,5 mSv/Jahr auf 1,0 mSv/Jahr gesenkt. Für Menschen in strahlenorientierten Berufen sind maximal 20 mSv zulässig - davor waren es 50 mSv. Die Kontrollbereiche, in denen ständig ein Dosimeter getragen werden muss, beginnen jetzt bei 6 mSv statt bei 15 mSv.
Umstrittener Grenzwert
Für Kinder im Mutterleib hat sich die Rechtslage hingegen vermutlich verschlechtert. Zwar erklärt die Staatssekretärin: "Wegen der Absenkung der Werte zur Abgrenzung von Kontrollbereichen ist es zum Schutz des ungeborenen Lebens nicht mehr geboten, Schwangeren generell den Zugang zu Kontrollbereichen zu untersagen." Zudem sei für Feten ein Grenzwert von 1mSv festgesetzt worden. Dieser aber gilt bei Fachleuten als sehr zweifelhaft. "Feten sind wohl das strahlengefährdeteste Gewebe, das wir kennen", sagt Strahlenbiologe Wolfgang Köhnlein, Mitglied der Strahlenschutzkommission der Bundesregierung.
Studien mit Daten des weltweit anerkannten Oxford-Kinderkrebsregisters hätten gezeigt, dass schon kleinste Strahlendosen - etwa eine einzige Röntgenaufnahme bei einer Schwangeren - die Leukämierate der Kinder in den ersten Lebensjahren verdoppeln kann.
Sicherlich hat die Strahlenschutzverordnung zu einer deutlichen Verbesserung der Situation geführt. Niemand kann aber einer werdenden Mutter, die in einem strahlengefährdeten Beruf arbeitet, die Entscheidung abnehmen, wie sie das "Restrisiko" bewerten soll. Eine Tatsache, die im Übrigen auch für andere Umwelteinflüsse - beispielsweise Alkohol und Rauchen - gleichermaßen gilt.